Herberge für junge Dienstmädchen

Rascher Zuwachs, wenig Platzressourcen, dazu erhebliche gesellschaftliche Unterschiede bezeichneten Berlin, welches einen jährlichen Zuwachs von ca. 50.000 Menschen verzeichnete. Dienstboten und Dienstmädchen, die dauerhaft in meist gut situierten oder kleinbürgerlichen Haushalte angestellt waren, prägten das soziale und wirtschaftliche Leben. Die Zahl belief sich auf etwa 12.000 mit einer ständigen Steigerung, davon Anfang der 1880er Jahre 40.000 weibliche Dienstboten.

Zu dieser Zeit hatten die Kaiserswerther Diakonissen an der Berliner Charité eine wachsende Zahl junger unerfahrener, gutgläubiger Mädchen bemerkt, die in der großen Stadt Berlin Arbeit und ihr Glück suchten, aber leider in die „Abteilung für syphilitische Kranke weiblichen Geschlechts“ eingewiesen wurden. Ihre Berichte an das Diakonie – Mutterhaus in Kaiserswerth veranlassten den Gründer der Kaiserswerther diakonischen Anstalten, Pfarrer Theodor Fliedner (1800 – 1864), in Berlin den neu ankommenden, aber auch hier lebenden“ ehrbaren, evangelischen Mädchen, welche dienstlos geworden sind, eine christliche Herberge und Hülfe zur Erlangung eines Dienstes (zu) geben“.

Gründung einer Mägdeherberge

In einem Gespräch mit einer Nonne erfuhr er von den Pariser Mägdeherbergen, die er als Vorbild für die erste von ihm gegründeten Berliner Mägdeherberge nahm.

Auf dem Nickelshof am Verlorenen Weg nördlich Berlins mietete Fliedner zwei kleine Gebäude und stattete sie mit zwölf Betten und wenigen Möbeln aus. Nach einem langwierigen Genehmigungsverfahren zur Führung eines „Gesinde-Vermietungs-Comtoirs“ konnte am 31. Oktober 1854 die bescheidene Herberge unter der Leitung von drei Diakonissen eröffnet werden.

Kaum jemand gab dieser Zufluchtsstätte am Rande des Voigtlandes eine Chance, denn „bei Regenwetter fuhr kein Droschkenkutscher für Geld und gute Worte“ in diese Einöde. Er musste gefasst sein, „dass sein Wagen im Kot stecken bleibt, wie dies trotz wackerer Pferde der Königin Elisabeth begegnet ist“. Straßenlaternen gab es noch lange nicht. Von „4 oder 5 Uhr an lag im Winter düstere Nacht über dem verlorenen Weg“.

Doch die Herberge entwickelte sich schon im ersten Jahr zu einer guten Adresse für junge Dienstmädchen. Andere Mägdeherbergen wurden in Berlin nach ihrem Vorbild errichtet, zum Beispiel das Amalienhaus am Nollendorfplatz und das Mägdehaus am Zwirnsgraben. In den folgenden Jahren entwickelte sich die Mägdeherberge zu einer gefragten Ausbildungsstätte für weibliche Dienstboten. Mägde, die sich als Kindermädchen eigneten, wurden an der zeitig gegründeten Kleinkinderschule ausgebildet, die 120 Kinder zählte. Besonders alleinerziehenden Müttern wurde damit geholfen, aber auch aus erzieherischen Gründen wurde manches Kind den Diakonissen anvertraut.

Im Spätherbst des Jahres 1855 kaufte Fliedner den gesamten Nickelshof für 21.000 Taler aus privaten Spenden.

Haushaltslehre im Marthashof

In der inzwischen eingerichteten Haushaltungsschule erhielten Mägde in der Waschküche, in der Mangelstube und in der Küche praktischen Unterricht.

Der Lehrplan des ersten Jahreskurses des Marthashofes (1861 erhielt die Herberge diesen Namen nach der dienenden Martha in der Bibel) umfasste Kochen mit Theorie und Praxis sowie Fächer der Hauswirtschaft mit allen da anfallenden Aufgaben, wie Waschen, Plätten, Wäsche flicken und pflegen. Mit Materialkunde, Gesundheitslehre (mit Säuglings- und Krankenlehre), Buchführung und vielen allgemeinen Fächern wurde die Ausbildung im zweiten Jahr beendet. Sie lernten sogar Gartenarbeit im Nutzgarten und Tätigkeiten zum Halten von Kühen, die es auf dem Hof gab.

Nach ihrer Ausbildung wurden die Mädchen in Haushalte vermittelt, wo sie gegenüber der Herrschaft klar definierte Rechte hatten wie zum Beispiel einen freien Nachmittag in der Woche, den sie in der Herberge verbringen konnten. Denn während ihrer Anstellungszeit blieben die Diakonissen weiterhin in engem Kontakt mit ihren Schützlingen. Des Weiteren wurden die Herrschaften gebeten, sonntags den Mädchen frei zu geben und an Werktagen ihnen die nötige freie Zeit zum Ausbessern ihrer persönlichen Kleider zu überlassen. Anscheinend war das nicht selbstverständlich.

Um einen „Notgroschen“ zu besitzen, erhielten die Mädchen zudem die Möglichkeit, Teile ihres Verdienstes in einer Art Sparbuch anzusparen, was gerade für Frauen eine große Unterstützung bei der Unabhängigkeitsentwicklung darstellte.

Mit der Erstbebauung der Umgebung wurde eine größere Schule notwendig. Eine Lehrdiakonisse begann den Unterricht in der privaten Mädchen – Elementarschule. mit 14 Schülerinnen. Zehn Jahre später unterrichteten drei Lehrdiakonissen schon 105 Schülerinnen. Leiter der Schule war Pfarrer der Sankt Elisabethkirche, da zur damaligen Zeit noch keine Frau diese Funktion übernehmen durfte.

Im 19. Jahresbericht für 1872/1873 steht „Wie groß einerseits das Vertrauen zur Anstalt, andererseits der Mangel an passenden weiblichen Dienstpersonal ist, zeigt der Umstand, daß im letzten Jahr, (also 1871) 2577 Herrschaften Mädchen aus dem Marthashof begehrten, während nur 539 Mädchen aus der Anstalt in einen Dienst zu Berliner Herrschaften antreten konnten.“

Nicht nur angehende Dienstmädchen nahm der Marthashof auf. Ab 1874 stand alleinstehenden Arbeiterinnen, die tagsüber in Fabriken standen, als Waschfrauen, Putzmacherinnen und Aufwärterinnen agierten, auch ein Kosthaus in der Herberge zur Verfügung. Für Obdach, Frühstück und Abendbrot zahlten sie monatlich drei Taler.

Die Lehre geht weiter

Der Marthashof existierte nunmehr 20 Jahre und ca. 15.000 Mädchen wurden gezählt, die die verschiedenen Einrichtungen besuchten. Ende der 1870er Jahre wurde ein moderner vierstöckiger Schulneubau errichtet. Nun gab es sechs Klassen mit weiteren fünf Lehrdiakonissen, deren Zahl mit den Jahren und mit der Einführung neuer Unterrichtsfächer auf 13 anwuchs.

Auch die Kleinkinderschule erhielt einen Neubau. Dadurch hatte man ab 1889 Raum für nunmehr acht Schulklassen mit bis zu 450 Schülerinnen. Unterrichtet wurde in den Fächern Religion, Deutsch, Musik, Rechnen, Raumlehre, Erdkunde, Geschichte, Naturkunde, Schreiben, Zeichnen, Handarbeiten und in den oberen Klassen Hauswirtschaft. Alle Fächer wurden von den Lehrdiakonissen abgesichert bis auf Sport. Was ab dem Jahr 1885 mit dem Bau der Turnhalle eingeführt wurde.

Gelehrt wurde ab 1903 nach dem Lehrplan der Berliner Gemeindeschulen. Die staatliche Anerkennung des Marthashofes als Haushaltungsschule wurde 1925 vergeben. Mittlerweile befanden sich täglich 600 Mädchen in der Anstalt, die sich mit Armenspeisung und sonstigen sozialen Tätigkeiten verdient machten.

Ende der Kaiserswerther Diakonie Arbeit

Nach dem ersten Weltkrieg fand die Mägdeherberge keine Notwendigkeit mehr und wurde aufgelöst ebenso die Haushaltungsschule, die aufgrund ökonomischer Gründe 1937 geschlossen wurde. Stattdessen kamen ein Kindergarten und ein Schulhort hinzu, letzterer brachte erstmals Jungen auf den Marthashof. 1938 wurden alle Gebäude und das gesamte Inventar an die Innere Mission übergeben. Mit der Auflösung aller privaten und konfessionellen Schulen wurde die Schule im Marthashof sowie alle weiteren Einrichtungen geschlossen. Auf Anweisung wurden die Schülerinnen an umliegende städtische Volksschulen verteilt.

Damit fand die 76-jährige Sozial- und Bildungsarbeit der Kaiserswerther Diakonie ein Ende in Berlin.

Im Jahresbericht der Kaiserswerther Diakonie von 1939 wurde berichtet: „Zum 1. April 1938 vollzog sich die Umstellung unserer Tochteranstalt Marthashof in Berlin. Die Anstalt steht nun unter der Führung des Gesamtverbandes für Innere Mission von Groß-Berlin und dient als Altersheim und als Hospiz. Der Kindergarten führt unter neuer Leitung seine Arbeit fort.“

Zerstörung und Erinnerung

In den Nächten des 22.und 23. November 1943 wurde der Marthashof mitsamt seiner Umgebung durch Bomben zerstört. Nur noch Erinnerungen blieben übrig. Ehemalige Schülerinnen der Mädchenschule berichteten von der Güte und Herzensbildung der Diakonissen. Sie schwärmen noch heute vom herrlichen Schulgarten mit den Kastanienbäumen, von den schönen Schulausflügen, dem Schulchor und von den Kleintieren, die sie auf dem Hof mit aufziehen durften. Durch Ordnung und Disziplin seien sie auf dem Marthashof wunderbar auf das Leben vorbereitet worden.

  • Quelle: Stofanel Investment AG

  • Text: Regine Glasneck